Lebensmittelskandale gehören inzwischen zum Alltag. Der Wirbel um Pferdefleisch in der Lasagne war da schon fast verwunderlich. Der Betrug war Anfang 2013 durch Untersuchungen in Großbri-tannien und Irland aufgeflogen. Wenig später hatte sich der Skandal um falsch deklarierte Fleisch-produkte auf die ganze EU ausgeweitet. Die britische Lebensmittelbehörde stellte fest: In elf von 18 getesteten Lasagnen der Firma Findus betrug der Pferdefleischanteil zwischen 60 Prozent und 100 Prozent.
Wie Recherchen ergaben, stammte das Fleisch aus rumänischen Schlachtbetrieben. Über Zwischenhändler gelangte es nach Zypern und in die Niederlande zu einem französischem Handelsbetrieb. Dieser
verkaufte Hunderte Tonnen Pferd als Rind an einen französisch-luxemburgischen Lasagne-Hersteller. So landeten Produkte mit illegal untergemischtem Pferdefleisch in mindestens 13 Ländern Europas.
Die Produkte waren in allen großen Supermärkten zu finden. Allein in Deutschland waren betroffen: Rewe, Aldi Nord, Aldi Süd, Eismann, Edeka, Kaiser’s, Lidl, Metro, Tengelmann und Konsum Leipzig.
Und nicht nur in der Lasagne tauchte Pferdefleisch auf. Auch in Gulasch, Ravioli und Tortellini konnte es nachgewiesen werden. Die Bilanz: Mindestens 124 Betriebe in Deutschland sind mit
Rindfleisch beliefert worden, das möglicherweise falsch deklariert war.
Wo liegt jetzt der Skandal? Zunächst einmal ist die Pferdefleischstory ein Lehrstück für die mitunter blindwütige Empörungsbereitschaft der Medien. Bei nüchterner Betrachtung wird klar: Für die
Gesundheit stellt Pferdefleisch keine Gefahr dar. Es ist sogar ein guter Eisenlieferant und besonders mager. Verpönt ist es vor allem aus historisch-kulturellen Gründen. Das war offenbar Grund
genug, sich täglich zu ereifern. Über den eigentlichen Skandal haben die erregten Gemüter nicht diskutiert: Dass selbst die Produktion einer einfachen Lasagne sich über zig Nationen erstreckt.
Durch die Globalisierung sind die Produktionsmethoden gleichermaßen zentralisiert und diversifiziert worden. Verstrickte Produktions-, Verarbeitungs- und Lieferketten haben ein System
organisierter Unverantwortlichkeit geschaffen. Schon der Weg des Fleischanteiles in der Lasagne von der Schlachtung bis zur Weiterverarbeitung erstreckt sich über halb Europa. Dasselbe gilt für
die Herstellung von Futtermittel für die Tierhaltung, sowie für Züchtung, Haltung und Transport.
Wenn man sich vor Augen führt, dass selbst Brezeln als sogenannte Teiglinge in chinesischen Fabriken hergestellt werden, um sie in München aufzubacken, ist die Vermutung naheliegend, dass sich
die Fertigung von Nudeln, Tomatensauce, Gewürzen und anderen Produkten zumeist über mehrere Kontinente ausdehnt. Die extreme Diversifizierung der Produktion ist wahrlich keine neue Erkenntnis.
Wir wissen es spätestens, seit Stefanie Böge ihre Joghurt-Geschichte veröffentlichte. Anfang der 1990er Jahre hatte die Wissenschaftlerin ausgerechnet, welche Strecke ein Becher Jogurt
zurückgelegt hat, bevor er beim Verbraucher landet. Es waren mehr als 9000 Kilometer.
Und so durchzieht eine schlichte Aussage die verschiedenen Kapitel der Ökoroutine: Wir wissen es längst. Schon seit zwei Jahrzehnten wissen wir, dass die Unternehmen immense Transportketten
aufbauen, um sich gegenüber der Konkurrenz behaupten zu können oder die Rendite des Anlegers zu maximieren. Seither haben sich die Verhältnisse eher verschlimmert. Spezialisierung,
Fertigungstiefe und umständliche Lieferketten haben zu- und nicht abgenommen, Transportketten sind länger und nicht kürzer geworden – zum Nachteil von Umwelt und Allgemeinwohl.
Können Politiker da nur tatenlos zusehen? Bleiben nur Appelle an die Vernunft des Einzelnen, doch bitte regional erzeugte Waren zu erwerben? Für sich genommen ist es ganz einfach: Eine Lasagne
lässt sich leicht in der eigenen Küche zubereiten. Bis auf bestimmte Gewürze kann man alle Zutaten aus der Region beziehen, und das auch noch aus ökologischer Landwirtschaft. Auch Unternehmen und
Restaurants könnten das Schichtnudelgericht zu fast einhundert Prozent regional und ökologisch zubereiten.
Woran hakt es also? Warum scheint die Regiopasta eine ferne Utopie zu sein? Weil der Markt sich so entwickelt, wie es die Rahmenbedingungen vorgeben. Wir lassen es zu, dass Transporte über
Tausende Kilometer extrem billig sind, weil wir die Maut nicht vorausschauend anheben oder Kerosin endlich besteuern. Wir bauen Straßen und Flughäfen aus, statt die Expansion zu begrenzen. Wir
akzeptieren, dass Waren zu Dumpinglöhnen hergestellt werden. Wir nehmen hin, dass billig vor Qualität geht, dass Lebensmittel aus Biolandbau die Ausnahme sind und nicht die Regel. Wir
akzeptieren, dass sich die Produktion unserer Nahrungsmittel in der Hand von Finanzjongleuren befindet, die keinen Gedanken an die Gesundheit der Kunden, die Klimawirkung ihrer Produktion und die
Arbeitsverhältnisse in den Betrieben verschwenden. Wenn sie es doch tun, dann nur, weil es zum Nachteil für ihre Rendite sein könnte.
Die »Europa-Lasagne« zeigt: Die systemischen Probleme unseres Wirtschafts- und Gesellschafts-systems manifestieren sich sogar in einem banalen Schichtnudelgericht aus der Truhe. Man muss nur den
Schleier der Skandalrhetorik in den Medien lüften und rasch werden die prinzipiellen Zusammenhänge erkennbar. Die von politischer Seite verkündeten »Aktionspläne«, um etwa die Kontrollen zu
verschärfen oder ein »Frühwarnsystem« zu etablieren, lenken allenfalls vom Grundproblem ab und sollen letztlich nur zeigen, dass man etwas getan hat. An den verheerenden Umständen der
Lebensmittelglobalisierung ändert sich nichts.
Man könnte die Schultern zucken und darauf verweisen, dass die Konsumenten doch selbst schuld seien. Wer eine Tiefkühllasagne für 1,49 Euro in den Backofen schiebt, kann über eine unappetitliche
Herstellung nicht ernsthaft erstaunt sein. Sollte nicht jedem klar sein, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn Lebensmittel immer billiger werden, während zugleich die Preise
allgemein steigen? Während diese Zeilen geschrieben werden, senkt ein Discounter nochmal den Preis für seine Tiefkühllasagne auf 1,29 Euro.
Doch es wäre zu einfach, die Verantwortung allein beim mündigen Konsumenten zu verorten. Tatsächlich ist dieser Befund fatalistisch, irreführend und fahrlässig. Auch gutverdienende und gebildete
Bürger greifen zum Billigprodukt. Sie verlassen sich, nicht zu Unrecht, auf den Staat, der mit seinen Lebensmittelkontrollen dafür sorgt, dass keine bedenklichen Waren verkauft werden. Zudem hat
Stiftung Warentest den Kunden beigebracht, dass billige Produkte oftmals genauso gut oder besser sind als teure. Der Verbraucher weiß, dass viele Markenhersteller identische Waren zugleich unter
einem Billiglabel verkaufen. Andere verdrängen schlichtweg die Fakten, wissen vor lauter medial geäußerten Expertenmeinungen nicht mehr, was sie glauben sollen oder denken »ist doch egal, auf
mich kommt es nicht an«. Es gibt viele Gründe, warum wir nicht tun, was wir für richtig halten. Sie werden im ersten Kapitel beschrieben und machen anschaulich, dass die Zeit für das Konzept der
Ökoroutine gekommen ist.
Preisdumping ist das Ergebnis eines radikalen Wettbewerbs, der zu niedrigen Standards führt. So niedrig, wie es der Gesetzgeber erlaubt. Der Konkurrenzdruck animiert zugleich die Hersteller, selbst niedrigste Vorgaben zu unterwandern. Wenn Discounter sich gegenseitig aufrufen, mit dem Dumping Schluss zu machen, heißt das für uns ganz klar: Jetzt ist die Grenze des Erträglichen erreicht, wenn nicht längst überschritten. Hinter vorgehaltener Hand plädieren etliche Unternehmer schon heute für Vorgaben von oben: Nur so ließen sich Auswege aus der Abwärtsspirale finden.
Und tatsächlich sind hohe Qualität, verantwortungsvolle Produktionsmethoden und faire Löhne möglich. Sie kommen nur nicht von allein in die Welt. Sie werden auch nicht von Konsumenten an der
Ladentheke initiiert. Notwendig sind systemische Problemlösungen. Also Konzepte, die das Problem an der Wurzel packen. Sprich: Ökoroutine als politisches Konzept (S. 222). Am Lasagne-Problem
lässt sich das Grundverständnis der Ökoroutine aufzeigen. Ein erster Ansatzpunkt liegt bei den Transportzeiten. Statt Straßen, Seehäfen und Startbahnen weiter auszubauen und damit zu längeren
Produktionsketten einzuladen, sind die Ausgaben auf die reine Erhaltung und Sanierung von Straßen und Flughäfen zu beschränken. Wenn sich in der Folge die Verkehrsströme verlangsamen, ist das ein
gewünschter Effekt.
Ein weiterer Ansatzpunkt sind die Transportkosten. Dieselsteuer und Maut können erhöht werden, Kerosin besteuert. Ein Straßenbaustopp verhindert die weitere Expansion des Lkw-Verkehrs. Das
verlangsamt den Transport womöglich, erst recht in Verbindung mit einem Überholverbot für Lkw. Noch ein Hebel ergibt sich in Hinblick auf die Tiertransporte. Dafür gibt es bereits strenge Regeln.
Zum Beispiel müssen die Tiere nach spätestens 29 Stunden Fahrt abgeladen werden. Diese Qual ermöglicht Transporte bis in die Türkei. Eine Begrenzung auf zwölft Stunden wäre im Sinne des
Tierschutzes angebracht. Das stärkt zugleich die regionale Wertschöpfung. Sodann gilt es, die Tierhaltung zu verändern. Anspruchsvolle Standards für artgerechte Haltung werden schrittweise
etabliert, bis nach 20 Jahren EU-weit der Biostandard erreicht ist. Genehmigungen von weiteren Großschlachthöfen und Megaställen unterbleiben.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Gestaltungsmöglichkeiten, um die Regeln für Warenhandel und Finanzmärkte zu beeinflussen. Das ist zwar kein leichtes Unterfangen. Doch bei den
Verhandlungen über Freihandelsabkommen wie TTIP zwischen den USA und der EU hat Deutschland beträchtlichen Einfluss, der genutzt werden könnte, um für einen ökofairen Rahmen zu sorgen . Dringend
notwendig ist zudem die Regulierung der Kapitalmärkte. Keine Revolution soll hier vorgeschlagen werden, sondern die Rückkehr zum Ordnungsrahmen der 1970er Jahre, welcher die Auswüchse der
Spekulanten zuungunsten sicherer Kapitalmärkte verhindert hat. Dabei ließe sich endlich die seit langem geplante Robin-Hood-Steuer für den Aktienhandel einführen. Finanztransaktionen würden dann
mit durchschnittlich 0,05 Prozent besteuert werden, die Mittel würden der Armutsbekämpfung und dem Klimaschutz zugutekommen (S. 230). All diese Maßnahmen schaffen Anreize für kurze Transportwege,
regionale und nachhaltige Erzeugung, kurze Wertschöpfungsketten und faire Löhne. Das ist die Logik der Ökoroutine.
Der Nachhaltigkeitsdiskurs ist nach wie vor geprägt durch den Glauben an die Macht des Konsu-menten. In der Umweltbewegung wird über das »richtige« Verhalten so viel geredet wie über das Wetter.
Produzenten nehmen dieses Argument dankbar auf, verlagert es doch alle Verantwortung zum Konsumenten. Auch die Politik wiederholt permanent das Mantra vom umweltbewussten Verhalten und kann sich
so vor unbequemen Entscheidungen drücken. Ökoroutine setzt hier einen Kontrapunkt. Im letzten Kapitel findet sich zum politischen Konzept der Ökoroutine eine ausführliche Erläuterung. Es löst
sich von umweltmoralischen Appellen und sorgt mit Hilfe von Standards und Limits dafür, dass sich der Wandel zur Nachhaltigkeit in weiten Teilen verselbständigt. Unsere Technologien und
Herstellungsverfahren werden so schrittweise naturverträglicher und effizienter und unsere Verhaltensweisen genügsamer. Ökoroutine basiert auf einer Koevolution von Technik und Kultur.
Beispielsweise sorgen Standards dafür, dass Autos immer klimafreundlicher werden; Straßenbau- und Tempolimit beeinflussen unser Verhalten. Solche politischen Vorgaben lassen sich freilich nur ins
Werk setzen, wenn die Wählerinnen und Wähler sie mittragen. Doch die zurückliegenden Erfahrungen zeigten, dass Ökoroutine uns in der alltäglichen Lebensführung entlastet.
Routinen prägen unseren Alltag und ganz unbewusst profitieren wir dabei von dutzenden Regeln und Standards, etwa auf dem Weg zur Arbeit: Der Wecker ist sicherheitstechnisch geprüft, die Kleidung
darf bestimmte Schadstoffe nicht beinhalten, ebenso der Kaffee. Dessen Packung ist standardisiert, wie auch die Kennzeichnungen über die Zutaten und Nährstoffe auf dem Toastbrot. Das Auto wurde
nach ISO-Norm hergestellt. Die Produzenten haben dabei zahlreiche staatliche Vorgaben beachtet. Auf dem Arbeitsweg beachten wir zahlreiche Vorgaben der Straßenverkehrsordnung; das Auto hat ein
amtliches Kennzeichen. Die Arbeit selbst ist reglementiert durch Tariflohn, gesetzliche Arbeitszeiten und Sicherheitsvorschriften. All das wird selten als Zwangssystem empfunden, es ist Routine.
In der gleichen Form ermöglicht uns das Konzept der Ökoroutine, das zu tun, was wir für richtig halten, ohne im Alltag darüber nachzudenken.