Bei allem Getöse um Stickoxide und Dieselbetrug kommt eine ebenso bedenkliche Entwicklung viel zu kurz: Der Straßenverkehr ist in den vergangenen 30 Jahren in deutschen Städten um zwei bis drei Dezibel lauter geworden. Das ist eine Zunahme von bis zu 25 Prozent. Warum wird darüber nur in Fachgremien diskutiert? Schließlich werden die Zustände immer beklagenswerter, statt besser. Ganz einfach, es handelt sich um eine schleichende Katastrophe. Und jeder Autofahrer trägt daran eine Mitschuld. Wer möchte das schon gerne in der Zeitung lesen? Da ist es angenehmer, über Flüsterasphalt, Lärmschutzwände und Motorentechnik zu palavern. Das Problem wird sozusagen auf die Technik, die Ingenieure und Planer geschoben. Wir haben es mit einer kollektiven Verantwortungslosigkeit zu tun.
Lärm ist eine extreme Belastung für die Gesundheit. Wer es sich leisten kann, wohnt ruhig. Häuser an stark befahrenden Straßen sind billig zu haben. Menschen mit geringem Einkommen wohnen
vergleichsweise laut. Dadurch verlieren in Deutschland Immobilien an Wert. Die kalte Enteignung von Immobilienwerten durch Straßenlärm nimmt seit Jahrzehnten zu und ist allgegenwärtig.
Der Wert eines Mehrfamilienhauses kann sich an einer stark befahrenden Straße halbieren gegenüber Häusern in ruhiger Wohnlage. Die Mietmindereinnahmen belaufen sich auf schätzungsweise
sieben Milliarden Euro im Jahr. Wo bleibt die Aufregung über diesen Skandal?
Stattdessen tobt die Debatte um Dieselfahrverbote. Sie werden als »kalte Enteignung« bezeichnet, so als ob die Eigentümer ihren Wagen verschrotten könnten. Dabei gilt die Vorgabe ja nur für die
Innenstadt. Jeder Dieselfahrer kann also vom weit entfernt gelegenen Umland bis nah an die City fahren und dann in Bus und Bahn umsteigen.
Warum beschweren sich Lobbyorganisationen wie »Haus und Grund« nicht über die massive Entwertung der Lärm-Immobilien? Vielleicht, weil die Lobbyisten und Hauseigentümer selbst täglich am Steuer
sitzen. So weit kann man das nachvollziehen.
Doch wäre es nicht eine attraktive Strategie, jetzt mal ganz aus Sicht der zumeist wohlhabenden Eigentümer, sich massiv für einen Rückgang des Autoverkehrs in Städten einzusetzen? Auf allen Ebenen über zig Kanäle, so wie Lobbyisten das so machen? Woran hakt es? Schließlich weiß jeder Makler, dass bei der Standortwahl vor allem drei Kriterien zählen: Lage, Lage und Lage. Vielleicht haben die Besitzenden nur noch nicht erkannt, dass sie finanziell profitieren, wenn der Straßenlärm abnimmt. Womöglich ist auch nur wenigen klar, dass die Lärmschutzdebatte über Flüsterasphalt & Co wohlfeil ist, solange die Planer das Problem nicht bei der Ursache anpacken.
Genauso wie Häuser durch zunehmenden Straßenverkehr an Wert verloren haben, werden sie an Wert gewinnen, wenn er abnimmt. Wenn es gelingt, dass die Pendler zunehmend auf Rad, Bahn und Bus
umsteigen, werden Immobilieneigentümer unmittelbar profitieren. Dasselbe gilt, wenn die Einkaufstouristen verstärkt Park & Ride-Systeme nutzen. Auch das autonome Fahrzeug birgt enorme
Gewinnpotenziale für Hauseigentümer, wenn wir die neue Technik clever nutzen. Wenn es gut läuft, nimmt der Straßenlärm dramatisch ab. Wenn es dumm läuft, bleibt alles beim Alten (siehe Autonomes Fahren).
Es wäre mithin naheliegend, dass die Verbände der Immobilienwirtschaft sich für die Strategie der Ökoroutine einsetzen: Strukturen ändern, statt Menschen! Wie wir wissen, sind generelle Appelle
an die Vernunft von Autofahrern absolut wirkungslos. Wenn man die Stadt jedoch mit Bahn und Rad deutlich schneller und womöglich auch günstiger erreicht, steigen die Menschen um. Das geht ganz
ohne Moral.
Genau genommen müsste die Immobilienwirtschaft nur einfordern, was die Bundesregierung schon 2009 beschlossen hat: Die Umsetzung des Nationalen Verkehrslärmschutzpaketes. Demzufolge soll
Straßenlärm bis 2020 um 30 Prozent abnehmen. Zu schaffen ist das nur mit weniger Autofahrten in der Stadt.
Übrigens, eine Maßnahme, die sofort eine dramatische Lärmschutzwirkung entfalten würde und quasi nichts kostet, ist Tempo 30. Würde diese moderate Geschwindigkeit in unseren Städte zur Regel,
wäre das Leben auch an stark befahrenen Straßen deutlich erträglicher. Bisher ist das leider nicht erlaubt. An den verlärmten Hauptstraßen dürfen die Kommunalpolitiker kein Tempolimit verhängen.
Dafür müsste man die Straßenverkehrsordnung ändern. Mehr dazu findet sich in der Ökoroutine.